Die Fachtagung „Red Tape durch Recht? Herausforderungen für den Bürokratieabbau im Rechtsstaat“ an der HVF Ludwigsburg bot am 7. Mai 2025 einen intensiven Blick auf die vielschichtigen Herausforderungen des Bürokratieabbaus – zwischen juristischer Notwendigkeit, politischem Willen und gesellschaftlicher Realität. Impulse aus Verwaltung, Wissenschaft, Praxis und europäischer Perspektive zeigten: Bürokratieabbau ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine kulturelle Frage.
Bürokratieabbau mit Augenmaß: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Zwischen Anspruch und Realität: Bürokratieabbau im Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen
Rektorin Dr. Iris Rauskala eröffnete die Veranstaltung mit einem klaren Hinweis auf die Herausforderungen: Bürokratieabbau sei eines der zentralen Themen für Staat und Verwaltung, auch Baden-Württemberg habe dies in aktuellen Initiativen aufgenommen. Die Hochschule verfolge das Ziel, Impulse aus der Praxis aufzunehmen und mit Politik, Wirtschaft und Verwaltung in einen lösungsorientierten Dialog zu treten.
Staatsminister Jörg Krauss mahnte in seinem Grußwort: „Es wird zu viel geredet und zu wenig gehandelt.“ Mit seinen 49 Jahren Erfahrung in der öffentlichen Verwaltung könne er sagen, vieles in der Bürokratie sei eine Reaktion auf die gesellschaftliche Entwicklung. Daher sei er besorgt über die Qualität der Verwaltung. Die Verwaltung müsse wieder „mit einer Stimme“ sprechen. Hierzu sei es auch nötig, die Führungskultur in der Verwaltung zu stärken und die Übernahme von Verantwortung zu fördern.

Juristische Perspektive: Regeln, aber mit Augenmaß
Rechtsanwältin Prof. Dr. Andrea Versteyl betonte, Bürokratie sei nicht per se schlecht, es komme jedoch auf das Verhältnis zwischen Bürokratieaufwand und dem Nutzen der Regelung an. Ein funktionierender Rechtsstaat erfordere ein ergebnisorientiertes Verwaltungshandeln. Jedoch führe eine übermäßige Regelungstiefe dazu, dass Eigenverantwortung und pragmatisches Handeln der Verwaltung eingeschränkt würden, wie beispielsweise beim Heizungsgesetz der Ampel-Regierung. Die Koalition habe nicht nur das Ziel, sondern auch den Lösungsweg vorgegeben. Dadurch könnten keine Alternativen mehr aufgezeigt werden, die eventuell bürokratieärmer wären. Ihre Forderung: Gesetze sollten ergebnisorientiert formuliert und bereits bei ihrer Entstehung auf Umsetzbarkeit geprüft werden. Eine zentrale Rolle komme hier der Ausbildung von Verwaltungsfachkräften zu.

Komplexe Verfahren, einfache Lösungen?
Julius Mihm, Baubürgermeister in Schwäbisch Gmünd und langjähriger Lehrbeauftragter der HVF, beschrieb anhand eines konkreten Beispiels aus der Bauplanung, wie das EU-Vergaberecht selbst kleinste kommunale Projekte verkomplizieren könne. Die verpflichtende europaweite Ausschreibung des Baus einer Kindergartengruppe verursache hohen Aufwand, steigere die Baukosten und verlängere die Projektlaufzeit. Die dadurch erreichte Transparenz und der „pro forma-Wettbewerb“ (da sich sowieso nur regionale Unternehmen bewerben würden) stehe ich keinem Verhältnis zum Aufwand. Er forderte einen Kulturwandel: Weg von einer „Rechtsschutzversicherungsvollkaskokultur“ hin zu einem praktikableren Rechtssystem mit anwendbaren Gesetzen.

Digitalisierung als Lösung – und zugleich Bürokratietreiber?
Prof. Dr. Judith Klink-Straub, Leiterin des Instituts für IT- und Datenschutzrecht an der HVF, warf einen kritischen Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen Digitalisierung und Datenschutz. Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sei in ihrer derzeitigen Auslegung ein Bürokratietreiber, so dass derzeit eine Überarbeitung zur Entbürokratisierung und Vereinfachung erfolge. Zugleich sollten regulatorische Überschneidungen mit den neuen Digitalrechtsakten der EU beseitigt werden (z. B. durch eine Doppelung von Informationspflichten oder Sicherheitsanforderungen). Prof. Dr. Klink-Straub präsentierte verschiedene Ansätze zur Umgestaltung der DSGVO, die sich nach der Unternehmensgröße richten oder einen risikobasierten Ansatz verfolgen. Neben Reformen der DSGVO sei auch die Vereinfachung nationaler Ausführungsgesetze in Betracht zu ziehen.

Europa als Regelgeber: Chance oder Bürde?
Der Leiter des Europabüros der baden-württembergischen Kommunen, Patrick Wegener, beleuchtete die Rolle des EU-Rechts als Treiber von Bürokratie. Bürokratie entstehe vor allem zwischen EU-Steuerungsmechanismen und der nationalen Umsetzung in den 27 Mitgliedsländern. Während Ziel der europäischen Gesetzgebung oft Transparenz und Vereinheitlichung sei, zeige sich in der Praxis ein Missverhältnis zwischen Regulierung und kommunaler Umsetzbarkeit. Der mit der HVF nicht nur als Absolvent des Masterstudiengangs Europäisches Verwaltungsmanagement, sondern auch als Lehrbeauftragter verbundene Europaexperte präsentierte das „Omnibusverfahren“ der EU-Kommission als neuen Weg, bestehende Regelungen aus unterschiedlichen Rechtsvorschriften in einem „Omnibus“ zu bündeln und gezielt zu vereinfachen. Kommunale Rückmeldungen sollen künftig direkt einfließen können – ein Hoffnungsschimmer für die kommunale Praxis.

Der Rechtsstaat braucht Klarheit – nicht Komplexität
Dr. Wolfgang Peschorn, Präsident der Österreichischen Finanzprokuratur, machte als zentralen Punkt für Bürokratieabbau aus, dass der Staat als Organisation der Gesellschaft dann gut funktioniert, wenn es klare Verantwortungszuweisungen gibt. Darin bestehe aktuell ein Problem, denn Bürokratie sei Ausdruck übermäßiger staatlicher Aufgaben und Strukturen. Entscheidend sei die Frage, welche Aufgaben der Staat übernehmen soll und wie diese rechtlich sauber und praktikabel geregelt werden können. Seine Botschaft: Aufgabenkritik und eine transparente Gesetzgebung sind die Grundlage eines funktionierenden Rechtsstaats und einer verhältnismäßigen Bürokratie.

Italien als Vorbild? Vereinfachung durch Selbsterklärung
Dr. Josef Bernhart vom Institut für Public Management an der EURAC in Bozen stellte ein weitreichendes Instrument zur Entbürokratisierung aus Italien vor: die Autocertificazione. Durch standardisierte Selbsterklärungen der Bürger:innen können zahlreiche amtliche Nachweise, wie zum Beispiel die des Wohnortes oder des Einkommens, ersetzt werden. Anstatt zum Amt zu gehen, um sich diesen Nachweis dort ausstellen zu lassen, könnten die Bürger:innen in einer amtlich anerkannten Ersatzerklärung diese persönlichen Eigenschaften selbst bescheinigen. So seien weniger Verwaltungsakte notwendig, um an dasselbe Ziel zu kommen. Die Anwendung sei weit verbreitet, bürgerfreundlich und trage zur Vereinfachung und Entlastung der Verwaltung bei.

Podium: Es braucht Mut zur Veränderung
In der prominent besetzten Podiumsdiskussion wurde deutlich, dass die Ursachen übermäßiger Bürokratie nicht allein in den Gesetzen, sondern oft im Umgang mit ihnen liegen – insbesondere durch eine ausgeprägte Absicherungsmentalität und fehlende Entscheidungssicherheit in der Verwaltung. Staatssekretärin Gisela Splett vom Finanzministerium BW, Dr. Wolfgang Peschorn von der Österreichischen Finanzprokuratur, Sigrid Zimmlering von der IHK-Bezirkskammer Ludwigsburg, Prof. Dr. Monika Gonser, Leiterin der Intersectoral School of Governance BW, Heidi Schmid vom Gemeindetag und Simon Letsche, Leitender Parlamentsrat vom Staatsministerium forderten einen Mentalitätswandel, mehr Eigenverantwortung, Vertrauen sowie pragmatische Umsetzungsstrukturen. Unternehmen sehen die überbordende Bürokratie zunehmend als Standortnachteil, während Verwaltungsmitarbeitende rechtliche Spielräume oft aus Angst vor Eigenhaftung nicht nutzen. Es brauche bessere Gesetze, die klar, widerspruchsfrei und vollzugsarm sind sowie strukturelle und kulturelle Veränderungen in der Verwaltungsausbildung und -praxis. Die Diskutierenden betonten, dass Bürokratieabbau eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern, Kommunen und Gesellschaft sei. In drei Jahren wolle man spürbare Fortschritte sehen.
Fazit: Der Weg zum Bürokratieabbau führt durch einen Kulturwandel
Die Fachtagung machte deutlich: Bürokratieabbau ist mehr als die Reduktion von Formularen – es ist eine Frage der Haltung, der Führung und des Vertrauens in Staat und Gesellschaft. Der Austausch an der HVF Ludwigsburg war ein wichtiger Auftakt, doch die eigentliche Arbeit liegt im Doing.